Ja guten Tag Sie ham keine Arbeit grade? Na da müssen wir eine Maßnahme durchführen
Da wird jetzt mal ordentlich Maß genommen 🙂
Aha ja 1,73, das reicht natürlich nicht, kein Wunder ham Sie keine Arbeit, hier Sie machen jetzt mal ein Training.
Schön Rücken durchdrücken, ja, schön, gleich 2 Zentimeter mehr, haben Sie mal über Schuhe mit Absatz nachgedacht? Sehen Sie ja das sind so die Kniffe, sowas will gelernt sein, gell da freuen Sie sich ja direkt, dass Sie zu uns gekommen sind, nicht wahr?
Sehen Sie ich wäre ohne eine Maßnahme nie hier gelandet, unter 1,80 geht hier gar nix, außer Sie ham ein Attest.
Da muss man auch mal dankbar sein, Sie wären ganz überrascht, wenn Sie wüssten, wie ich früher…
Ach einen Master haben Sie? Na das ist schön, ich bin ja promoviert, aber ohne Maßnahme bringt einem das heutzutage ja nix mehr.
Na genug Smalltalk, haha, small, klein, von wegen, Größe ham Sie gezeigt, also, Sie haben ja bestimmt noch einiges zu tun, nicht wahr? Jetzt wo Sie wissen wie man sich, na, genau, toll. Na dann noch einen schönen Tag Ihnen und viel Erfolg, Sie kommen noch hoch hinaus, haha.
(Die gemessene Person verlässt, auf den Zehenspitzen balancierend, das Zimmer; die Maßnahmenperson setzt sich auf den Teppich vor ihrem Schreibtisch, kontrolliert mit einem Blick verstohlen, ob die Tür zum Nachbarbüro geschlossen ist, zieht die Absatzschuhe aus, macht den Rücken krumm, fast Embryonalstellung, und weint leise in sich hinein.)
Ich habe einen Kronleuchter, der ist so hässlich, dass es wieder toll ist. Ich habe zwei Lieblingshandtücher, beide von Ikea, und zwei Lieblingsstrandtücher, beide von meiner Kindheit. Ich habe drei selbstgestrickte Mützen, die sind so schön, dass ich gerne eine*r von diesen Autor*innen wäre, die so malerisch umschreiben können. Ich habe vier Kletterhosen. Eine davon, die schöne lilane, hat ein Loch am linken Knie, das ist so groß, es ist eher ein Loch mit etwas Hose drumrum. Ich habe, apropos Hosen, fünf kurze und sechs lange. Zuerst die kurzen: Eine zum Klettern und Schwimmen, eine nur zum Schwimmen, und zwei, die ich nicht unbedingt dreckig oder nass machen will. Dann die langen: zwei Jeans, eine schöne, eine sehr gebrauchte. Zwei schicke Chinos und zwei Jogginghosen. Meine sieben Pullover haben alle eine Kapuze, bis auf einen, das tut mir etwas leid, weil ich den deswegen fast nie trage, weil ich recht oft eine Kapuze brauche.
Nicht weil mir ständig kalt ist, für solche Fälle habe ich drei selbstgestrickte Mützen. Nein, ich brauche die Kapuzen, um meinen Kopf vor der Welt oder die Welt vor meinem Kopf zu verstecken.
Ich habe allerhöchstens acht Paar Socken ohne Löcher. Und obwohl ich ständig neue kaufe, habe ich nur neun Unterhosen, ich verstehe das nicht, aber so ist die Realität beschaffen, manches bleibt unerklärlich, deswegen glauben so viele ja auch an eine Gottheit.
Ich bekomme alle drei Monate ein Rezept verschrieben und habe dann zehn Blister mit je zehn Tabletten Antidepressiva, die reichen dann wieder für 100 Tage. Mathematisch geht das nicht ganz auf, aber es scheint da gewisse Spielräume zu geben, so wie bei einem linksbündigen Text, da hört ja auch nicht jede Zeile auf der gleichen Höhe auf.
Ich habe ganz oft Lust, mit irgendetwas anzufangen, einen Text zu schreiben zum Beispiel, mit einem roten Faden, der geht mir dann hin und wieder unterwegs verloren, und mit dem Faden verliere ich zuerst die Geduld, dann das Ziel aus den Augen und am Ende habe ich dann ein Fragment. Na gut, das hatte Goethe auch. Ähnlich ist es mit dem Schreiben von Rechnungen, dafür bekomme ich am Ende ja sogar Geld und dann habe ich wieder etwas anderes, nämlich einen positiven Kontostand, aber in der Regel habe ich drei Wochen lang eine ungeöffnete Mail im Posteingang, in der steht, "du wolltest mir noch die Rechnung schicken". Andere Selbständige beneiden mich dafür, dass meine Klient*innen mir hinterherlaufen und nicht andersrum; ich beneide mich nicht, ich habe eine ordentliche Portion Selbstmitleid und als Beilage Zweifel, ob ich Selbstmitleid haben darf.
Ich habe elf Sticker auf meinem Schreibtisch, für das Panini Sammelalbum zur EM 2020, die dann 2021 stattgefunden hat und seit einiger Zeit vorbei ist. Ich werde die Sticker nicht mehr einkleben, es fehlen mir zu viele, um die Sammlung vollzukriegen, und irgendwie erinnert mich diese klebrige Unvollkommenheit an die Farbe des Fadens, der um diesen Text geschnürt ist.
Ich habe einen durchschnittlichen Verbrauch von zwölf Zigaretten am Tag und es wäre sehr vernünftig, diese Zahl eines Tages auf Null zu reduzieren. Aber ich habe da auch noch ein überwundenes Alkoholproblem und eine recht fundamentale Frage, nämlich wie viel Kaffeepulver muss ich im Haus haben, um weder über den Spaß am Trinken, die Entspannung beim Rauchen oder das Elend der Welt nachdenken zu müssen.
Ich habe locker 13 Lieblingsbands, 14 Lieblingslieder und 15 Tage ohne depressiven Schub. Das letzte klingt für meinen Geschmack viel zu melodramatisch, aber es ist etwas, wovon ich sonst nicht so viel habe: ein Rekord.
Die Struktur ist lose, offen, die Dramaturgie entspricht den Konzepten des epischen Theaters – direkte Publikumsansprache, die Dialoge sollen weniger eine Geschichte transportieren als Meinungen vermitteln und den Zuschauer zum Nachdenken und Reflektieren bringen – bin ich dieser Henry oder diese Verena?
Akt 1
Die Figuren werden Szene für Szene vorgestellt. Sie transportieren keine Geschichte, sondern entsprechen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen.
Szene 1
Christian betritt die halbherzig als Wald dekorierte Bühne. Er wendet sich an das Publikum, stellt fest, dass er sich hier in einem Wald befindet, bleibt ruhig und sachlich, er findet es hier zwar sehr schön, jetzt reicht es ihm aber, er wird sich nun auf die Suche nach einem Weg aus dem Wald heraus machen. Er geht ab.
Szene 2
Verena betritt die Bühne, sie wirkt panisch, verstört, schreit mehr, als dass sie redet, halb in Richtung Publikum, dieser verdammte Wald macht ihr Angst, sie will hier sofort raus. Sie geht ab.
Szene 3
Henry betritt die Bühne. Er wendet sich mit großer, fast gönnerhafter Geste an das Publikum, der Mann hat offensichtlich was zu sagen. Er erklärt detailreich, dass dies ein Wald ist, was dies für ein Wald ist, dass er Immobilienmakler ist, was an diesem Job so spannend ist, und übrigens ist er hier aus freien Stücken und bereit, jedem gerne zu zeigen, wie man aus diesem Wald wieder herauskommt. Er kennt sich aus. Er geht jetzt noch ein bisschen spazieren, man soll ihn einfach rufen, wenn man eine Frage hat. Er geht ab.
Szene 4
Eine Gruppe von 5-8 Leuten läuft über die Bühne, ihre Blicke sind auf Handys und Landkarten gerichtet. Sie ignorieren das Publikum, man hört allerdings, dass sie schwer damit beschäftigt sind, heraus zu finden, wer geographisch am besten bewandert ist. Einige diskutieren auch, ob es effektiver wäre, das GPS auf nur einem Handy zu aktivieren. Sie gehen ab.
Szene 5
Anna betritt die Bühne. Sie entschuldigt sich für die Verspätung, für das Chaos, für die Dunkelheit (es ist überraschend hell für einen Wald, aber das ändert nichts für Anna), für ihre leichte Verwirrtheit, außerdem würde sie hier gerne raus, das tut ihr auch Leid, weil eigentlich wollte sie ja kommen, aber jetzt möchte sie gerne wieder gehen, blöderweise weiß sie den Weg aus dem Wald nicht, dafür bittet sie auch um Verzeihung, und dafür, dass sie jetzt weiter muss. Sie geht ab.
Akt 2
Die Figuren treffen sich, ihre Handlungen, die durch ihre Rollen geprägt werden, überschneiden sich und sorgen für Konfliktsituationen. Die zu vermittelnden Rollenbilder werden vertieft, indem die Reaktionen aufeinander gezeigt werden.
Szene 1
Verena und Anna kommen gemeinsam auf die Bühne, Verena schreit immer noch panisch. Es ist richtig anstrengend und Anna sagt ihr das auch, entschuldigt sich wortreich beim Publikum für das hysterische Geschrei, Verena schreit, dass sie die Klappe halten soll, dieser verdammte Wald! Sie gehen schreiend und sich entschuldigend ab.
Szene 2
Christian und Henry betreten die Bühne. Christian ist sichtlich genervt, Henry erklärt ihm gerade, warum die Tannen ihre Blätter nicht verlieren und dass es gar nicht Blätter heißt, sondern Nadeln. Christian will etwas sagen, aber Henry lässt ihn nicht zu Wort kommen, weil er Christian sagt, wenn Christian etwas sagen will, nur raus damit. Christian schaut kurz flehend ins Publikum, aber was soll er machen, besser als Henry kennt er den Weg aus dem Wald auch nicht. Sie gehen ab.
Szene 3
Die Gruppe kommt wieder auf die Bühne, es haben sich zwei kleine Grüppchen gebildet, sie wenden sich ans Publikum, deuten auf die jeweils andere Gruppe und beschuldigen sich gegenseitig, im Chor, der Inkompetenz. Sie gehen ab.
Akt 3
Der polarisierende Antagonist tritt alleine auf und beendet die „Vorstellungsrunde“. Es entwickelt sich so etwas wie eine Handlung oder Spannung, weil Henry alleine im Mittelpunkt steht, das Bühnenbild kontextualisiert und am Ende der Szene auf der Bühne bleibt.
Szene 1
Henry kommt auf die Bühne und erklärt wortreich, dass das gar kein Wald ist, sondern ein Spiegelbild der Gesellschaft und die Bäume sind die vielen Menschen, zwischen denen man sich nicht zurecht findet. Er hat Verständnis dafür, dass man das nicht sofort versteht. Nachdem das jetzt gesagt ist, kann man das Ganze jetzt abbrechen, meint er, ist ja alles nur ein Spiel und eine Bühne, hat ja Shakespeare schon gesagt. Anstatt abzugehen, setzt er sich auf den Boden und redet weiter, bleibt aber in der Waldmetapher und klärt das Publikum über Flora und Fauna des Waldes auf. Es wird dunkel.
Akt 4
Die anderen Figuren treten zu Henry und bauen die Handlung weiter aus; die Spannung, die in Akt 3 entsteht, wird kurz aufgenommen und dann fallen gelassen. Eine Publikumsansprache beendet das Stück und fordert die Zuschauer*innen indirekt dazu auf, die Rolle des Henry und dessen Wertvorstellungen in sich selbst zu suchen. Die Waldmetapher wird ironisiert, um das Publikum mit dessen Kopplung an den gesellschaftlichen Diskurs zu konfrontieren.
Szene 1
Henry sitzt immer noch am Boden und redet wie ein Wasserfall. Er hat alles verstanden, aber die anderen nicht. Fast niemand, eigentlich. Er versucht, alles zu erklären, scheinbar hat er nicht mehr viel Zeit. Die anderen Personen kommen auf die Bühne und umringen Henry. Sie hören ihm eine Weile zu, dann packen sie ihn – sanft, aber bestimmt – und tragen ihn, während er immer weiter redet, von der Bühne. Zurück bleibt nur Verena. Sie entschuldigt sich beim Publikum, es sei immer das selbe mit Henry, sie haben einfach noch keinen Weg gefunden, um mit ihm zurecht zu kommen, außer ihn am Ende des Stücks von der Bühne zu tragen. Es tut ihr leid, dass alles so kommen musste, aber das Stück ist jetzt leider vorbei, und ja, die Sache mit dem Wald und der Gesellschaft, da hatte Henry schon Recht. Aber das war ja auch offensichtlich.
Neulich saß Herr Tschauner mit einem guten Freund aus Studientagen auf dessen Balkon. Die beiden genossen gemeinsam die angenehm-entspannende Wirkung einer Marihuana-Zigarette und unterhielten sich seit einiger Zeit über diverse erheiternde Sachverhalte, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Während sie so sinnierten, wurde Herr Tschauner der taxierenden Blicke eines Nachbars gewahr, der einen Balkon weiter die Abendsonne bei einer Maß Bier genoß. Offensichtlich war er mit ihrem gesetzeswidrigen Treiben nicht einverstanden: Bald ging er vom Beobachten dazu über, die Nase zu rümpfen und murmelte missbilligende Äußerungen. Herrn Tschauner war die Situation äußerst unangenehm, denn der rechtlich fragwürdigen Situation war er sich natürlich bewusst. Er wies seinen ehemaligen Kommilitonen auf die pikante Lage hin, in der sich die beiden nun befanden. Dieser, wir wollen ihn unter dem Namen Hofmann kennen, lächelte müde und winkte ab. Er habe sich mit dieser ständigen Belästigung bereits abgefunden, es bliebe jedes Mal nur bei frechen Kommentaren, so seine Worte.
Herr Tschauner war darob einigermaßen entsetzt. Sicher, auch er war der Meinung Hofmanns, dass Marihuana im Vergleich zu Alkohol, auch wenn die psychischen Langzeitschäden bei Jugendlichen natürlich nicht zu vernachlässigen wären, die weniger gefährliche Droge sei. Doch erging nicht sein Freund sich in gleichsam gefährlicher Ignoranz? Ja, der Gesellschaft mochten sie mit ihrer Einstellung voraus sein, aber wer hatte denn zu entscheiden, was legal war? Wer durfte festlegen, auf wessen Seite eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit vorlag?
Es ist nur Recht, erklärte also Herr Tschauner dem Hofmann, dass sich dein Nachbar beschwert. Wir sind doch diejenigen, die meinen, gesellschaftlich institutionalisierten, in Gesetzesform gegossenen, Einstellungen zu Rauschmitteln voraus zu sein, und widersprechen damit gänzlich ungebeten der stillschweigenden Übereinkunft, die man gemeinhin Gesellschaftsvertrag nennt. Er, der Nachbar hingegen, ist zum jetzigen Zeitpunkt zwar der Ruhestörer, aber in seiner Ansicht und seinem respektabel gezügelten Zorn doch gedeckt durch Recht, Ordnung und die Meinung der - weh uns! - schweigenden Mehrheit. Wir sollten des Nachbars Beschwerden also vielmehr hinnehmen, führte Herr Tschauner letzlich aus, seiner Mahnung dankend folgen, als Hinweis auf unser Querulantentum, als gut gemeinte Warnung, nicht für einige wenige Stunden Genuss gleich gesellschaftliche Grundfesten einzureißen. Mit diesen Worten drückte er die zur Hälfte gerauchte Zigarette aus, ging in die Küche, um dem Kühlschrank zwei gut gekühlte Weißbier zu entnehmen, die er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte, schenkte gekonnt ein (wir kennen Herrn Tschauner bereits als fähige Thekenkraft) und setzte sich wieder zu Hofmann auf den Balkon, um mit ihm auf ihr gemeinsames Dasein als rechtschaffene Bürger anzustoßen.